Vergangenheit: Es war einmal vor langer, langer Zeit in den Jahren ab 1978, da saß ich mit meinem kleinen Bruder an unserem Atari 2600. Wir spielten all die Spiele, die damals so außergewöhnlich und neu waren und die uns mit Asteroids oder Centipede in fremde Welten entführten oder uns die Erde bei Space Invaders, Defender oder Missile Command gegen böse Außerirdische verteidigen ließen. Jedes neue Spiel war geprägt von Vorfreude: Das Aufreißen der Zellophanfolie, das vorsichtige Öffnen der Pappschachtel, um ja keinen Knick zu verursachen und das Gefühl, mit genau diesem Spiel den nächsten Level der Videospielgeschichte erreicht zu haben.
Aber vor dem Zocken stand immer eins: Das Lesen der Anleitung. Videospiele waren damals eine regionale Angelegenheit und so war das dünne, aber liebevoll gestaltete Heftchen meist komplett farbig und in Deutsch verfasst. Auch wenn wir zum Spielen diese Anleitung nicht wirklich benötigten, dies war der erste Schritt in eine neue Welt, die Freude auf das, was uns erwartet wenn das Modul im Schacht steckt und der Kippschalter des Atari das Spiel startet. Kurz, die Fantasie lebte, weil ein Spiel etwas Besonders und kein beinahe täglich neues Konsumgut nach heutigem Maßstab war.
Galerie – zum Start auf ein Bild klicken
Gegenwart: Ich halte Forza Horizon in den Händen. Aus der Plastikbox fallen mir ein BMW- und ein Wireless Speedwheel-Werbeflyer entgegen. Ein dicker schwarzer Balken unterhalb der CD weist mich durch grün-transparentes Plastik darauf hin, dass alle „wichtigen Spiel- und Sicherheitsinformationen“ nun auf der Innenseite des Covers abgedruckt sind und ich dieses zum Lesen der Infos aus der Hülle ziehen soll. Eine Anleitung suche ich vergeblich. Gleiches passiert mir bei HALO 4. Mich erwarten eine inzwischen nur noch 14tägige Goldmitgliedschaft und ein Flyer zum DVD- bzw. Blu-ray Start von Prometheus. Auch hier keine Anleitung.
Dabei dachte ich schon beim X-COM Remake, dass sich da jemand geirrt haben muss. Die Anleitung für das Original auf der Playstation One war ein über 130 Seiten starkes, komplett in deutscher Sprache verfasstes Buch, welches dem Spieler eine Geschichte erzählte und ihm haarklein jedes noch so unwichtige Detail näherbrachte. Eine regelrechte Enzyklopädie des bevorstehenden Weltuntergangs, wenn ich nicht die X-COM befehlige. Die Anleitung des Remakes beschränkt sich auf ganze vier Seiten, wo sind die restlichen über 120 Seiten geblieben? Aber oho, da steht am Kopf dieses Blättchens, dass man sich die komplette Anleitung unter einem Link bei 2K Games herunter laden kann. Also den PC angemacht, um die die nächste Überraschung zu erleben. Denn was ich da lade, ist das Gleiche, was ich schon in der Hülle gefunden habe, nämlich genau das identische vierseitige sterile Dokument ähnlich eines Medikamenten-Beipackzettels.
Ich habe schon kein Verständnis dafür, dass Spiele nicht mehr von Menschen produziert werden, die im stillen Kämmerlein ihre Ideen verwirklichen wollen oder dürfen, sondern das Ökonomen und Marketingstrategen sagen, was wir heute spielen dürfen. Denn nur was sich verkauft, bringt auch hohe Gewinne. Und die müssen steigen, immer mehr und immer schneller. Es geht darum Geld zu verdienen, das ist vollkommen legitim. Wer etwas anbietet, soll dafür gerecht entlohnt werden, das ist der von uns gewählte Kapitalismus. Aber muss es immer noch mehr und noch mehr und noch mehr Geld sein? Ist nicht irgendwann das Ende der (Wachstums-)Spirale erreicht?
Dieser Fall scheint im letzten oder vorletzten Jahr eingetreten zu sein. In einem der ehemals mit am schnellsten wachsenden Märkte stagnieren die Absatzzahlen der klassischen Videospiele. Da der Kaufpreis von knapp 60,- Euro für zu viele Käufer eine magische Grenze bildet, die nicht überschritten wird, mussten neue Ideen der Publisher her, um weiterhin noch mehr und noch mehr und noch mehr Geld zu verdienen. Nach kostenpflichtigem Downloadcontent, von dem ohnehin schon vieles von Anfang an auf die DVD gehört hätte und somit hätte im Kaufpreis inbegriffen sein müssen, ist nun die nächste Stufe der Evolution erreicht: Mehr Geld lässt sich nur noch durch Einsparungen verdienen, das Zauberwort heißt Effizienz.
Und so spart man neben den Materialkosten für eine Anleitung auch gleich die Menschen mit ein, die sich bisher um diese gekümmert haben: Grafiker, Designer, Drucker, Übersetzer und wer sonst noch mittel- und unmittelbar mit der Erschaffung eines solchen Dokuments beschäftigt war. Denn vorsichtshalber gibt es nicht nur keine Anleitung in Papierform mehr, es gibt auch gleich keine Anleitung als PDF. Wenn sparen, dann richtig. Mal sehen, wann Sparzwänge die Einsparer einsparen?
Die Einsparung der Anleitung kann aus Publishersicht viele Gründe haben. Da stehen die oben erwähnten Kosteneinsparungen, sie selbst argumentieren mit dem Totschlagargument Umweltschutz. Auf einer DVD/Blu-ray steht heute so viel Speicherplatz zur Verfügung, dass ein minutenlanger, cineastischer Vorspann möglich ist und alle wichtigen Informationen wie auch die Tastenbelegung in den Optionen abgerufen werden können. Pads hatten damals eben nur einen oder zwei Knöpfe, heute hat man schon nach dem Vorspann Arthrose in den Fingerknöcheln. Auch ist aufgrund der Komplexität der Spiele und Joypads scheinbar ein Tutorial inzwischen notwendig. Das gab es damals alles nicht, weil Speicherplatz wertvoll war und lieber für noch einen Level oder eine zusätzliche Animation verwendet wurde. Alles ehemals Gedruckte wird heute als Teil den Ganzen in das Spiel implementiert. Das waren die pragmatischen Gründe.
Der stetig wachsende Zyniker in mir überlegt hingegen, ob es auch daran liegen kann, dass ohnehin immer weniger Leute in der Lage sind oder sich überhaupt die Zeit nehmen, bedrucktes Papier zu lesen und sich Anleitungen deswegen überlebt haben? Ist für einen Videospieler eine gedruckte Anleitung heute nur noch unnützes Beiwerk, welches zum Aussterben verdammt ist?
Dabei waren gedruckte Anleitungen mal etwas Wertvolles. Sie waren ein zeitgeschichtliches Dokument, welches einfach zu einem Spiel dazugehörte. Legt man Anleitungen verschiedener Generationen oder Epochen nebeneinander, kann man anhand derer auch die Historie der Videospiele sowie den rasanten technischen Fortschritt erkennen. Einem Spiel selbst sieht man an, wie alt es ist. Die Anleitung erzählte aber zu diesem Spiel die Geschichte von Aliens, die die Welt bedrohen, von magischen Welten, die man als Held zu durchschreiten hat und von längst vergangenen sportlichen Großereignissen.
Wenn der Bildschirm schon lange schwarz bleibt, so kennt wenigstens das begleitende Heftchen die emotionale, tragische oder komische Geschichte dazu. Damals wie heute ist Nintendo der Publisher mit den umfangreichsten, farbigsten und informativsten Anleitungen überhaupt. Ich hoffe, dass das auch nach Einführung der Wii U und der dortigen Entdeckung des kostenpflichtigen DLC so bleibt, denn ich stehe als Veteran noch immer auf bunt bedrucktes Papier zu einem Videospiel, welches mich in die Story mitnimmt …