Heavy Rain – mein Spiel des Jahres 2010

Die Frage, wie weit würdest du gehen, um jemanden zu retten, den du liebst, ist bei Heavy Rain keine Floskel, sondern das alleinige spielentscheidende Element. Wahrscheinlich hat sich jeder schon einmal mehr oder weniger rhetorisch mit dieser Frage auseinander gesetzt, in diesem Spiel wird die Fiktion zur fast schon greifbaren Realität, denn der Origami-Killer geht um.

Dieser entführt ausschließlich im Herbst Söhne im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren, die vier Tage später ertrunken in Regenwasser mit einer Origami-Figur und einer Orchidee aufgefunden werden. Und die Frage nach dem wie weit würdest du gehen ist nur eine von einigen weiteren Fragen, die ihr euch im Verlauf der Handlung stellen müsst, denn Heavy Rain nimmt vereinzelt Anleihen bei den nicht unumstrittenen Filmen Saw oder Hostel. So steht im Laufe der Handlung die Frage im Raum, ob man bereit ist zu töten, um das eigene Kind zu retten? Dabei bedient sich das Spiel, ohne der Handlung vorzugreifen, einigen Klischees, denn der zu tötende Drogendealer, der Ethan noch Sekunden zuvor mit der Pump-Gun ins Jenseits befördern wollte, kniet Augenblicke später wimmernd mit einem Foto seiner Töchter in der Hand am Boden und fleht um Gnade. Die Entscheidung, ob Leben oder Tod liegt also in euren Händen.

Doch was ist denn Heavy Rain nun wirklich für ein Spiel, wenn es denn noch eines ist? Im Vorfeld wurde immer wieder betont, dass das Spiel in keine der klassischen Videospiel-Schubladen passt und das vom Entwickler Quantic Dreams als Nischenprodukt in den Massenmarkt platziert werden soll. Von Fans wird der Titel von der Steuerung mit Fahrenheit verglichen, das Spiel an sich ist im Stile eines spielbaren Film Noir aufgebaut. Das Internet beschreibt Film Noir („schwarzer Film“) als einen vom französischen Filmkritiker Nino Frank geprägten Begriff, dessen Genre sich durch eine düstere Handlung, pessimistische Weltansicht und verbitterte Charaktere definiert. Und damit ist die Grundausrichtung von Heavy Rain perfekt getroffen. Die traurige, aber durchgängig spannende Handlung rund um einen Kinder-Serienmörder spielt im ständigen Dauerregen, welcher die pessimistische Stimmung die gesamte Spielzeit über aufrecht erhält. Exzellent zur Handlung passend und glaubhaft umgesetzt sind die vier Charaktere, die die finstere Handlung vorantreiben und von denen jeder einzelne aus völlig unterschiedlichen Beweggründen auf der Suche nach dem Täter ist.

Da wäre zum Einen der Familienvater Ethan, dessen Leben nach dem Unfalltod seines älteren Sohnes Jason den Bach herunter geht. Vom gefeierten Architekten in der Idylle seines Heimes und der Geborgenheit seiner Familie, springt das Spiel nach dem Tod des Erstgeborenen zwei Jahre in die Zukunft. Ethan lebt, getrennt von seiner Frau, mit Sohn Shaun in einem heruntergekommen Reihenhaus in einer schäbigen Gegend und versucht das Geschehene mehr schlecht als recht zu verarbeiten. Als Shaun nun vom Kinder-Karussell eines Spielplatzes verschwindet, nimmt die Geschichte die Handlung auf. Hat hier der Origami-Killer zugeschlagen und Ethans jüngeren Sohn entführt? Weitere spielbare Figuren sind der Ex-Cop und jetzige Privatdetektiv Shelby, den nebenbei sein Asthma quält, der drogensüchtige FBI-Agent Norman und die an Schlaflosigkeit leidende Reporterin Madison. Jeder der Protagonisten hat seinen eigenen Handlungsstrang, aber dennoch begegnen sich die Figuren im Laufe des Spiels, so als Madison Ethan im Hotel trifft, in welches sie sich aufgrund ihrer Albträume einquartiert hat. Damit steuert der Spieler von Szene zu Szene einen anderen Charakter, sammelt Beweise, verfolgt Hinweise und versucht so, dem perfiden Grauen ein Ende zu bereiten.

Wer Heavy Rain in den CD-Schlitten legt, sollte kein Action-Feuerwerk im eigentlichen Sinne erwarten, denn die gesamte Steuerung funktioniert per Quick-Time-Event, d.h. Aktionen und Handlung werden einzig durch das rechtzeitige Drücken vorgegebener Tastenkombinationen aus- und fortgeführt. Diese Art der Steuerung ist sicher nicht jedermans Sache und war auch vor Fahrenheit auf dem Sega-CD bei Road Avanger und davor sogar auf Laser Disk Playern über die Fernbedienung bei Dragons Lair schon einmal da, aber dies mögen nur die älteren unter den Spielern noch wissen. Von daher erfindet Quantic Dream um David Cage das Rad nicht neu, sondern eben „nur“ anders. Auch Dragons Lair war ähnlich Heavy Rain ein spielbarer, interaktiver, wenn auch Comic-Film, von daher ist eben nur die Art und Weise der Präsentation anders. Neu ist die Art, wie hier beim Spieler Gefühle geweckt werden, denn negative Emotionen gehören seit je her zu Videospielen dazu und auch Angst spielt eine ebenso große Rolle, wie Klassiker wie Resident Evil oder Silent Hill beweisen. Dieses Spiel bezieht seine Emotionen aus der Angst um Shaun, der Verzweiflung eines Vaters und einigen Szenen, in denen der Spieler vor eine Entscheidung gestellt wird, von der niemand hofft, diese in der realen Welt jemals treffen zu müssen.

Aber solche Emotionen können nur aufgebaut werden, wenn das Ambiente stimmt, die Charaktere glaubhaft sind und auch die Umgebung stimmig ist. All dies ist bei Heavy Rain der Fall. Quantic Dreams betrieb einen unermesslichen Aufwand für das Motion Capturing. Schauspieler standen über 140 Stunden vor der Kamera, um Bewegungen und Mimik möglichst lebensecht einzufangen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Figuren, deren Handlungen und Bewegungsabläufe, wirken so lebensecht wie selten zuvor in einem Spiel. Und so baut man innerhalb kurzer Zeit ein Verhältnis zu den Spielfiguren auf, man leidet mit Ethan, wenn dieser voller Verzweiflung seinen Sohn Jason in einem überfüllten Kaufhaus sucht, man hat schweißnasse Hände, wenn Madison sich aus der Umklammerung eines Einbrechers lösen will und spürt förmlich die Fäuste, wenn Shelby sich in einer Schlägerei zur Wehr setzen muss. Aber auch alle weiteren Figuren im Spiel erfüllen die ihnen zugedachten Rollen, sei es der widerliche Playboy Paco oder der alte Antiquitätenhändler Manfred, die alle zum gelungenen und mitreißenden Ganzen beitragen. Und bei mir machte sich tatsächlich Enttäuschung breit, als ich aufgrund meines Fehlers das virtuelle Leben des FBI-Agenten Norman in einer Schrottpresse verlor. Zu der an Perfektion grenzenden Grafik passt auch die bis auf ganz wenige Ausnahmen überaus gelungene deutsche Synchronisation.

Klingt Heavy Rain bis hierhin wie ein spannender Krimi, so löst einzig die Steuerung gelegentlich einige Frustration aus. Nicht nur, das teilweise bis zu fünf Knöpfe gleichzeitig bedient werden müssen, wird im Vergleich zur sonst üblichen Bewegung von Figuren über den linken Analog-Stick hier zusätzlich noch die R2-Taste gedrückt, damit sich der Charakter in Bewegung setzt. Dies ist doch arg gewöhnungsbedürftig und so manche Szene endet damit unfreiwillig mit Bewegungen in eine völlig andere Richtung, wenn die Kamera den Blickwinkel ändert. Ein weiterer Nachteil der Quick-Time-Event Steuerung fällt erst beim Spielen auf: Es gibt einige Action-Szenen, die durch das rechtzeitige und richtige Drücken bestimmter Tasten und Tastenkombinationen gelöst werden müssen. So starrt man als Spieler eher gebannt auf die nächste Einblendung zur folgenden Taste, statt dem Geschehen am Bildschirm folgen zu können. Und auch das fehlerhafte Drücken kann folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen, wie mir das Ableben meines FBI-Agenten vor Augen geführt hat. Warum und wieso weiterhin dem Braten von Rühreiern in der Küche des Privatdetektivs Shelby so viele Knöpfe und damit Aktionen zugeordnet werden, bleibt wohl ein Geheimnis der Entwickler.

Fazit:
Heavy Rain
ist trotz einer gewöhnungsbedürftigen Steuerung das andere Spiel. Es bedient alle gängigen Klischees, die einen guten Film auch ausmachen: Guter Bulle – böser Bulle, Lokalpolizist gegen FBI-Agenten, den gesundheitlich angeschlagenen, abgehalfterten Privatdetektiv, den zu allem bereiten Familienvater und die auf Rache sinnende Prostituierte. Alles dies war schon einmal da, nur eben nicht an einer Videospielkonsole.

Ich bin offen für die Handlung und Steuerung an das Spiel gegangen und innerhalb weniger Minuten war ich Teil des Geschehens. Ich fieberte mit „meinen“ Figuren und setzte im ersten Durchspielen alle nötigen Mittel ein, um Shaun zu retten. Dabei schreckte ich auch vor einem kaltblütigen Mord nicht zurück. Und genau das ist Heavy Rain: Eine emotionale Achterbahnfahrt der Gefühle, die mich an die Hand nimmt, mir einen von vielen möglichen Wegen zeigt und mich mehr als nur unterhält. Wer sich auf das Spiel einlässt und in einigen Szenen über das am Bildschirm Gezeigte nachdenkt, wird ein Spielerlebnis mitnehmen, wie es ganz selten der Fall ist.

Wäre Heavy Rain ein Kinofilm, so würde er wahrscheinlich ein Kassenschlager werden. So bleibt zu hoffen, dass die Spielgemeinschaft einem gelungenen Experiment einen ähnlichen Erfolg bescheinigen wird.
Ich persönlich spiele das Spiel gerade zum zweiten Male und werde einige andere Entscheidungen als beim ersten Durchgang treffen. Ich lasse mich überraschen, welche Auswirkungen diese Entscheidungen auf den weiteren Verlauf der Handlung haben werden. Für mich ist Heavy Rain ganz großes Kino und …

… wie weit würdest DU gehen, um jemanden zu retten, den du liebst?